Stuttgart – Wir trauern um das in der Wilhelma verstorbene Koala-Jungtier. Laut Zoo handelt es sich um eine Atemwegserkrankung; die Obduktion steht aus. Wir spekulieren nicht über den Einzelfall. Zugleich nehmen wir die öffentliche Einordnung des Wilhelma-Direktors zum Anlass, zentrale Aussagen sachlich zu prüfen und die Systemfrage zu stellen: Warum werden Koalas in Stuttgart weiterhin gezüchtet und zur Schau gestellt?
Was der Direktor sagt – und was die Fakten hergeben
In der Pressemitteilung bezeichnet der Wilhelma-Direktor den Nachwuchs als „sensationellen Zuchterfolg“, spricht von einer „Reservepopulation“ mit „genetisch extrem wertvollen“ Tieren – und behauptet, Todesfälle bei Jungtieren kämen in der Natur deutlich häufiger vor als in Zoos. wilhelma.de
Diese pauschale Gegenüberstellung hält einer Prüfung so nicht stand:
Gefangenschaft (Zookohorte): Eine aktuelle peer-reviewte Studie (zwei Einrichtungen, n=39 Weibchen) berichtet bei 17 erfolgreich trächtigen Koalas den Verlust von 7 Beuteljungen – das entspricht 41,2 % Mortalität. Die Autor:innen fordern explizit mehr Transparenz und Monitoring. BioMed Central
Freiland (Südost-Queensland): Eine groß angelegte Analyse weist für Koala-Joeys eine intrinsische Überlebensrate von 71,2 % bis zur Selbstständigkeit aus (≈ 28,8 % Mortalität, ohne Todesfälle infolge Muttertod). BES Journals
Die Datensätze sind methodisch nicht 1:1 vergleichbar – belastbar ist aber: Ein genereller Vorteil der Zuchtbedingungen in Zoos lässt sich aus der Literatur nicht ableiten; im Gegenteil, die verfügbare Kohorte aus der Haltung zeigt sehr hohe Verluste. Die Behauptung „deutlich häufiger in der Natur“ ist so nicht belegt. BioMed CentralBES Journals
Diese Zahlen zeigen: Dr. Kölpins Behauptung, „Todesfälle bei Jungtieren in der Natur deutlich häufiger vorkommen als in Zoos“, widerspricht zumindest dem zitierten Forschungsbefund. Die Daten deuten eher auf umgekehrte Relation hin (Wildsterblichkeit ~29 % vs. Zoo ~41 %) bohrium.compmc.ncbi.nlm.nih.gov.
Gefangenschaft verschiebt Risiken – sie eliminiert sie nicht
Zoos können einzelne Risiken medizinisch abfedern (tierärztliche Versorgung, Quarantäne). Gleichzeitig entstehen/steigen andere Risiken: Enge, Besucherstress, eingeschränkte Wahlmöglichkeiten, neue Infektionswege. Die oben zitierte Studie verknüpft Beutel-Dysbiosen und multiresistente Keime mit Neonaten-Mortalität in Gefangenschaft – und fordert systematisches Post-mortem-Reporting BioMed Central.
„Reservepopulation“ – wofür eigentlich?
Die Wilhelma wertet die Geburt als Zuchterfolg und Beitrag zu einer „Reservepopulation“. Es gibt keine belegten Programme, in denen Koalas aus europäischen Zoos in Australien oder freilebende Habitate ausgewildert wurden. Stattdessen ist das Gegenteil der Fall: Zoo-Verbände (EAZA) fordern Importe aus Australien, um die genetische Vielfalt in den EEP-Zuchtprogrammen zu verbessern strapi.eaza.net. So berichtet der aktuelle EAZA-Bericht, dass neue Koalas von Australien nach Europa kommen müssen („New imports from Australia are needed to increase genetic diversity…“strapi.eaza.net). Wilhelma selbst hat 2023 erst männliche und weibliche Koalas aus Australien aufgenommen, statt welche zurückzuschicken. Der EAZA-TAG-Report 2023 bestätigt explizit: „Two males and two females were imported by Wilhelma Zoo (Germany)“ und nennt weitere „new imports from Australia“ für das Koala-EEP strapi.eaza.net.
Hürden einer Rückführung:
Australien gewährt nur äußerst eingeschränkt Tierimporte – gerade bei Arten mit kritischen Gesundheitsrisiken. Selbst wenn Exporte rechtlich möglich sind, gibt es für in Europa gehaltene Koalas keine belastbar dokumentierte Re-Integrationsperspektive nach Australien; die EAZA selbst verweist stattdessen auf den Bedarf neuer Importe zur Genetikpflege des EEP.“ Strapi Krankheiten wie Chlamydia (bis zu 90 % Infektionsrate, 70–90 % Unfruchtbarkeit in manchen Populationen scientificamerican.com) und Koala-Retrovirus bergen Biosecurity-Gefahren. Viele Zoo-Koalas tragen unterschiedliche Unterarten und Pathogene in sich. Zudem existieren in Europa keine geeigneten „Halbwilde“ Habitate zum Auswildern: Die Zoogruppen dienen als genetische Reserve (sog. living genome bank), nicht als Wiederansiedlungspopulation pmc.ncbi.nlm.nih.govstrapi.eaza.net. Zusammenfassend: Jeder Versuch, europäische Zoo-Koalas zurück nach Australien zu bringen, würde an strengen Importregeln, Krankheitsrisiken und fehlenden Freilassungsstrategien scheitern.
Ethik und Tierwohl
Tiere in engen Gehegen zeigen oft „Zoochose“-Verhalten (z. B. ständiges Umherkreisen oder Selbstverstümmelung), da sie ihre natürlichen Verhaltensbedürfnisse nicht ausleben können. Besonders Berg- oder Baumbewohner wie Koalas leiden unter Platzmangel und veränderten Klimabedingungen. Es ist moralisch nicht gerechtfertigt, Tiere nur als Attraktion zu halten.
Keine Auswilderung:
In der Praxis gelingt die Wiederauswilderung von Zuchttieren oft nur selten. Viele Zuchtprogramme dienen vor allem der Tierpräsentation, nicht echter Naturschutzwirkung wilderness-society.org. Dies passt auch auf Koalas: Wie erwähnt, haben europäische Zuchtnachkommen praktisch keine Wiederansiedlungschance.
Genetische Aspekte:
In Gefangenschaft geborene Koalas weisen oft einen engen Genpool auf. Zwar lassen sich Koalas gut züchten, doch fehlt „die Einbringung wilder Gene“ – in einer Untersuchung hieß es, die Nachkommen wären allein nicht ausreichend, um wildpopulationen zu stabilisieren. Die Forscher betonten, selbst wenn Zuchten erfolgreich sind, bleibt die große Herausforderung, dass die Nachkommen geeignete Gebiete zum Auswildern finden und dort langfristig überleben scientificamerican.com.
Krankheitsrisiken:
In Zoos können sich arterhaltende, pathogene Erreger verbreiten (etwa resistente Enterobacteriaceae im Beutel pmc.ncbi.nlm.nih.gov). Bekannt ist, dass Koalas in der Gefangenschaft häufiger an Atemwegs- und Beutelerkrankungen sterben. Zudem bringt das Halten enger Gruppen das Risiko von Seuchen (Chlamydien, KoRV) für die gesamte Population.
Diese fachlichen Punkte unterstreichen die Forderung, Zuchtprogramme mit Auswilderungsperspektive zu verknüpfen oder aufzugeben. Experten warnen, dass Zoos allein keine Lösung für bedrohte Arten sind, solange die Tiere dort nur als „genetische Reserve“ leben und erhebliche ethische sowie gesundheitliche Probleme bestehen wilderness-society.orgscientificamerican.com.
Unsere Forderungen
Generelles Zuchtverbot (Koalas und alle Arten), keine Neuankäufe/-importe.
Verbindlicher, zeitgebundener Ausstiegsplan aus Tierhaltung und Zurschaustellung; Transformation der Wilhelma zu einem tierfreien Bildungs- & Artenschutzzentrum (digitale/immersive Vermittlung, Förderung wirksamer In-situ-Projekte).
Transparenz: Veröffentlichung der Obduktions-Kernpunkte, jährliche Morbiditäts-/Mortalitätsberichte, unabhängiger Welfare-Audit in der Übergangsphase.
Tiere sind keine Attraktionen. Stuttgart kann vorangehen – mit einem fairen, planvollen Ausstieg aus der Tierhaltung.
Quellen (Auswahl)
Wilhelma Stuttgart (Pressemitteilung 14.08.2025) – Ursache „Atemwegserkrankung“, Direktorzitat („Reservepopulation“, „deutlich häufiger in der Natur“). wilhelma.de
Maidment et al., Microbiome (2023) – Zookohorte, 41,18 % Neonaten-Mortalität, Dysbiose/Resistenzen, Forderung nach Reporting. BioMed Central
Beyer et al., Journal of Applied Ecology (2018) – Freiland, 71,2 % „intrinsische“ Joey-Überlebensrate (≈ 28,8 % Mortalität). BES Journals
EAZA TAG Reports (2023) – Koala-EEP braucht neue Importe aus Australien (u. a. Wilhelma-Importe) zur genetischen Diversität; Ex-situ-Bestandsmanagement. Strapi
Quigley et al. 2020 / Wildlife Health Australia Factsheets – Chlamydien-/KoRV-Prävalenz in Wildpopulationen und daraus folgende Biosecurity-Hürden. PMCwildlifehealthaustralia.com.au

