Markus Wild ist ein Schweizer Philosoph und Professor für theoretische Philosophie an der Universität Basel. Markus Wild ist seit 2012 Mitglied der EKAH (Eidgenössische Kommission für die Gentechnik im Ausserhumanbereich) und hat ein Gutachten über Kognition und Bewusstsein bei Fischen verfasst. Er prägte im deutschsprachigen Raum den Begriff der Tierphilosophie, zu der er drei Grundfragen vorschlägt:
- 1. Denken nichtmenschliche Tiere?
- 2. Gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren?
- 3. Wie ist das moralische Verhältnis von Menschen zu anderen Tieren zu gestalten?
Wir haben ihm einige Fragen gestellt:
© Markus Wild
Herr Professor Wild, aus welchen Gründen essen Sie keine Tiere?
Markus Wild: Die allermeisten Tiere, die wir züchten und halten, um sie als Nahrungsmittel zu verarbeiten und zu essen, sind empfindungsfähig. Sie empfinden Lust und Leid, Furcht und Freud. Oder in anderen Worten: Sie haben ein Bewusstsein. Wenn ein Lebewesen Bewusstsein hat, dann geht es dieses Lebewesen etwas an, wenn ihm etwas widerfährt. Ein solches Wesen, darf man sagen, hat basale Interessen, insofern es Schmerz und Furcht meiden möchte und nach Dingen, die im Lust und Freude bereiten, strebt. Diese basalen Interessen muss man berücksichtigen, das tun wir z.B. auch bei Kleinkindern. Zu diesen Interessen zähle ich die Freiheit von Leid, das Recht auf Leben und Bewegungsfreiheit. Denken Sie an einen Hund. Jedem ist klar, dass Hunde Dinge meiden, die ihnen Angst machen und mit Freude auf Dinge reagiert, die sie mögen. In dieser Beziehung unterscheiden sich Hunde nicht von Hühnern, Truthähnen, Kaninchen, Schweinen, Ziegen, Schafen oder Kühen. Wenn wir diese Tiere nun züchten, um sie zu töten, dann widerfährt ihnen dadurch ein großes Unrecht, weil wir sie einsperren, oft unter leidvollen und lustlosen Bedingungen, und sie dann töten, was in vielen Fällen auch qualvoll geschieht. Diese Tiere durchlaufen zu Abermillionen himmelschreiendes Elend. Dieses Unrecht und dieses Elend lassen sich vermeiden, wenn man aufhört Fleisch zu essen. Wir in Europa haben diese Möglichkeit, weil wir über ausreichend Ernährungsalternativen verfügen. Wir müssen kein Fleisch essen. Hinzu kommt: Unser Fleischkonsum ist nachweislich ungesund, er belastet die Umwelt, verschwendet wertvolle Ressourcen wie Wasser und Land (insbesondere auf anderen Kontinenten, wo die Leute diese Ressourcen bitter nötig hätten) und generiert regelmäßig Lebensmittelskandale, in die wir auch noch öffentliche Gelder investieren. Nehmen Sie das zum namenlosen Leid in den Ställen und zur unsagbaren Metzgerei in den Schlachthöfen hinzu, dann wird der Fleischkonsum nicht nur moralisch höchst anstößig, sondern einfach auch irrational.
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Eigentlich möchte (fast) niemand einem Tier gezielt Schmerz zufügen. Aber warum essen dann Ihrer Meinung nach doch so viele Menschen Fleisch? Hat dies etwas mit der Empathiefähigkeit zu tun, die bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt ist? Liegt es an der Erziehung oder am Einfluss der Medien?
Markus Wild: Alle diese Ursachen spielen bestimmt eine Rolle. Man muss sich zunächst einmal vorstellen, dass die Massenproduktion und der Massenkonsum von Fleisch eine relativ neue Sache ist. Das beginnt vereinzelt Ende des 19. Jh. und hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg richtig durchgesetzt. Um das Fleisch herum ist im Laufe dieser Entwicklung ein regelrechter Mythos gewachsen. Das aufstrebende Bürgertum musste Proteine in sich hineinschaufeln, um Leistungen erbringen zu können. Der Mythos sagt: Fleisch ist gesund, es gibt „Kraft", es gehört zu jeder Mahlzeit, es ist ein Symbol von Wohlstand und Status, echte Männer grillieren Fleisch am offenen Feuer usw. Heute essen wir schon als Kinder regemäßig Fleisch und werden durch die Fleischindustrie (deren Werbung in manchen Staaten sogar von der öffentlichen Hand unterstützt wird) durch das ganze Jahr mit Fleisch und dem dazugehörigen Mythos beliefert. Das alles ist für uns zur Gewohnheit geworden. Und natürlich schmeckt Fleisch einfach vielen Menschen, sie essen es mit Lust. Gewohnheit und Lust sind zwei enorm starke Kräfte. Sie vermögen die Gründe, die ich oben gegen das Fleischessen angeführt habe, immer wieder aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Gewohnheit und Lust funktionieren aber auch wie Filter, die nur durchlassen, was wir glauben wollen. Ich habe oft genug sehr reflektierte Familien erlebt, die von sich sagen, dass sie sehr selten Fleisch essen, natürlich nur Biofleisch, von Tieren, die es gut hatten und ganz human geschlachtet worden sind. Und währenddessen legen sich die Kinder Billigfleisch aufs Brötchen. Dass solch ein Filter existiert, kann man in psychologischen Experimenten nachweisen. Das Stichwort dazu ist „meat paradox". Die Resultate sind erschreckend: Wenn man Fleisch isst, dann schwindet damit die Bereitschaft, dem Tier, das man gegessen hat, Empfindungen, Bedürfnisse und Intelligenz zuzugestehen. Wir essen also nicht nur Fleisch, weil es uns an Empathie und Einsicht fehlt, sondern uns fehlt es am Empathie und Einsicht, weil wir Fleisch essen.
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In Ihrem Gutachten „Fische: Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Perspektive" schreiben Sie, dass Fische Schmerz empfinden können. Fische schreien nicht (hörbar), haben keine Mimik und keine Großhirnrinde. Was macht Sie dann so sicher?
Markus Wild: Fische erfüllen dieselben Kriterien für Schmerzen wie Menschen und anderen Säugetieren. Also darf man schließen, dass auch Fische Schmerz empfinden können, insbesondere, weil keiner der Gründe, die gegen die Möglichkeit von Schmerzen bei Fischen sprechen, zu überzeugen vermag. Es existieren seit über zehn Jahren von allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern akzeptiere Belege dafür, dass Fische über ein sog. nozizeptives System verfügen. Das ist ein System, das in der Lage ist, schädliche Reize zu diskriminieren und entsprechend darauf zu reagieren. Dieses System funktioniert aber wie ein Reflex. Zum Vergleich: Stellen Sie sich vor, dass Sie versehentlich auf eine heiße Platte fassen. Sie zucken reflexhaft zurück, aber der Schmerz kommt erst später. Das nozizeptive System sorgt für das Zurückzucken, aber der Schmerz entsteht erst durch die Verarbeitung der schädlichen Reize in den höheren Hirnarealen. Bei uns spielt dabei der Neokortex eine wichtige Rolle. Fische haben keinen Neokortex. Daraus haben einige Wissenschaftler den Schluss gezogen, dass sie keine Schmerzen empfinden. Ich nenne dies den „No-brain-no-pain-Einwand". Das ist aber ein offenkundiger Fehlschuss. Bei Fischen übernehmen andere Hirnareale zum Teil Funktionen, die bei uns der Neokortes übernimmt. Und in diesen Arealen werden schädliche Reize verarbeitet. Wie irrig der „No-brain-no-pain-Einwand" ist, können Sie dem folgenden Beispiel entnehmen: Bei Menschen werden visuelle Informationen in Teilen des Neokortex verarbeitet, Adler verfügen über keinen Neokortex, sind Adler also blind? Natürlich nicht! Ein anderes Hirnareal verarbeitet beim Adler (und allen anderen Vögeln) die visuelle Information.
Viele Philosophen waren / sind Vegetarier. Woran liegt das? Nehmen Sich Philosophen mehr Zeit zum (Nach-)Denken?
Markus Wild: Es ist immer schwierig, Fragen über den eigenen Berufsstand zu beantworten. Historisch ist es nicht so, dass Philosophen eher Vegetarier waren. Vegetarismus hatte in historischen Zeiten immer auch mit religiösen Überzeugungen oder Ess- und Gesundheitsgeboten zu tun. Den ethischen Vegetarismus, wie ich ihn vertrete, gibt es erst seit rund 200 Jahren (ich habe weder religiöse Überzeugungen, unterwerfe mich nicht vielen Gesundheitsgeboten, mir würde Fleisch sogar schmecken, nur finde ich es ethisch falsch Fleisch zu essen). Man könnte ja meinen, dass Leute, die sich professionell mit Moral befassen irgendwie bessere Menschen sein sollten, weil sie sich bewusster nach moralischen Maßstäben verhalten und diese konsequent anwenden sollten (es ist ja leider die Konsequenz, die uns bei Tieren fehlt). Ich selbst bin der Ansicht, dass die Philosophie nicht allein ein akademisches Fach ist, sondern auch eine rationale Lebensführung verlangt. Allerdings zeigen Studien, dass Moralphilosophen häufig nicht besser sind als andere Menschen auch. Das ist auch bei Theologen und Priestern der Fall. Allerdings zeigen diese Studien auch, dass ein Großteil dieser Philosophen Vegetarismus für die richtige Option hält. Warum? Nun, weil Philosophen eben darin geschult sind, alle Gründe für und gegen ein Sache zu erwägen und nicht nur die gefälligen Gründe herauszufiltern und die unliebsamen zu ignorieren. Zweitens denken Philosophinnen ernsthaft über Möglichkeit und Alternativen zum Bestehenden nach und nehmen diese sehr Ernst. Darum ist die Philosophie ja eminent kritisch und politisch. Offensichtlich gibt es andere Möglichkeiten als Fleischkonsum und offensichtlich gibt es für uns Ernährungsalternativen.
Vielen Dank Herr Professor Wild für das Interview!
© Markus Wild