Tierschutztagung Bad Boll vom 6.-8.3.2015
Das Thema der diesjährigen Tierschutztagung an der Evangelischen Akademie Bad Boll lautete „Tier und wir – Ist erlaubt, was nicht verboten ist? Ethische Kontroversen, Dilemmata und Grauzonen im Tierschutz".
Ein Schwerpunkt war die strittige Auslegung des deutschen Tierschutzrechts in Bezug auf die Tötung von Tieren. Ein weiterer befasste sich mit grundsätzlichen tierethischen Problemstellungen und Positionen im Umgang mit Tieren, die im Gegensatz zu früheren Tagungen ausgesprochen viel Raum einnahmen.
Schon die Einführung von Carmen Ketterl, einer der Tagungsleiterinnen, ließ aufhorchen. Sie konstatierte u.a., dass die derzeitige Praxis im Umgang mit Tieren skandalös und schizophren sei und deshalb dringend ein Diskurs darüber geführt werden müsse, wie wir zukünftig mit Tiere umgehen wollen. Dabei dürfe auch die Frage nicht ausgeschlossen werden, ob und inwieweit die Nutzung von Tieren in heutiger Zeit überhaupt noch legitim sei. Der gesellschaftliche Konsens des Fleischessens breche zunehmend auf, ein Paradigmenwechsel hin zu einer Mitleidkultur erscheine möglich.
Vorträge
Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Tierschutzrecht
Dr. Talke Ovie von der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht und der Jurist Christian Schönwetter von der Akademie für Tierschutz referierten über den Begriff des „vernünftigen Grundes" im Tierschutzgesetz. Für mich war neu, dass diese oft als „Gummibegriff" kritisierte Formulierung bei Lichte besehen mehr Vor- als Nachteile habe: Es sei zum einen praktisch ausgeschlossen, für sämtliche möglichen Tierschutzfälle eine spezifische Regelung im Gesetz festzuschreiben. Zum andern lasse die absichtlich vage Formulierung Raum für sich stetig ändernde moralische Auffassungen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Auslegung bzw. Präzisierung erfolge im Einzelfall durch Gerichtsurteile, die sich maßgeblich auf spätere ähnliche Problemstellungen und letztendlich auch auf die Gesetzgebung im positiven, allerdings zuweilen auch im negativen Sinne auswirkten.
Positivbeispiel: Infolge verschiedener Rechtsprechungen signalisierten die Bundesländer mit Ausnahme Bayerns bereits breite Zustimmung zu einem endgültigen Verbot der Anbindehaltung von Milchkühen.
Negativbeispiel: Der jahrelange Rechtsstreit um die Affenhirnversuche Andreas Kreiters, der mit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Bremen ein verheerendes Signal für künftige Rechtsprechungen setzte.
Der Gesetzgeber selbst stoße kaum Reformen an, sondern reagiere nur auf gesellschaftliche Entwicklungen. Gesetzesänderungen würden dagegen von vielen Beteiligten ins Rollen gebracht, insbesondere von Gerichten, Veterinären und ‒ ganz wichtig ‒ von NGOs (Nichtregierungorganisationen). Es wurde mehrfach betont, dass gerade Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen beharrlich Forderungen stellen müssten, die als (noch) nicht umsetzbar gelten!
Jean-Claude Wolff
Professor Wolff, einer der renommiertesten Autoren zur Tierethik im deutschsprachigen Raum, hielt einen brillanten Vortrag über die verschiedenen Ansätze und Schwierigkeiten, Menschen- und Tierrechte philosophisch zwingend zu begründen. Er bewertet den Pathozentrismus, bei dem die Leidensfähigkeit eines Lebewesens im Fokus des moralischen Handelns steht, trotz allem als die beste Ausgangsposition für die Begründung von Tierrechten. In der Neuzeit habe sich eine Kultur des Mitleids entwickelt, die auch nichtmenschliche Lebewesen einschließe, aber deren konsequente Anwendung auf beträchtliche Hindernisse und Widerstand stoße.
Es bestehe eine „moralische Schizophrenie zwischen der verbreiteten Tierliebe zivilisierter Länder und einer hedonistischen Kultur des Fleischkonsums, die in diesen zivilisierten Ländern zum gegenwärtig höchsten Fleischkonsum aller Zeiten geführt hat." Wolff spricht von einem Moralversagen in Bezug auf Tiere, dessen Ursachen unter anderem auf Willensschwäche, Egoismus, Bequemlichkeit oder auch die Unfähigkeit, unangenehme Gefühle zu ertragen, zurückgeführt werden könnten. Dieses Paradox lasse sich kurzfristig zwar nicht überwinden, der moralische Vegetarismus und Veganismus setze aber ein Zeichen der Hoffnung, dass sich die Kluft zwischen Tierliebe und Tierproduktion in Zukunft verkleinern wird.
Christian Große-Siestrup
Der Veterinärmediziner und frühere Leiter der tierexperimentellen Einrichtung des Virchow-Klinikums der Berliner Charité schilderte am Beispiel des von ihm gegründeten Vereins Leben mit Tieren e.V. die positive Wirkung von Tieren auf Menschen. Der Umgang mit Tieren motiviere zur Selbstsorge und Kommunikation, verbessere die emotionale Befindlichkeit und körperliche Gesundheit durch positive Reize, strukturiere den Tagesablauf zugunsten gesundheitsfördernder Tätigkeiten. Die therapeutische und pädagogische Nutzung der Mensch-Tier-Beziehung gewinne immer mehr an Bedeutung in Kindergärten und Schulen, in Krankenhäusern und Behinderten-Wohngemeinschaften, in Seniorenheimen, im häuslichen Umfeld und auch in der Psychotherapie.
Astrid Reinke vom Verein, Achtung für Tiere e.V.
Die Tierärztin und Tierschutzlehrerin hielt einen hervorragenden Vortrag über ihre Tierschutzarbeit mit Schülern, in dem sie auf überzeugende und mitreißende Weise darstellte, wie sie junge Menschen zum Nachdenken über unseren Umgang mit Tieren animiert. Sie mache – wie sie betonte – dabei kein Hehl daraus, dass sie die Ausbeutung der Tiere in der Landwirtschaft oder in Tierversuchen kategorisch ablehne, überlasse es aber jedem/r Schüler/in, sich selbst eine eigene Meinung zu bilden. Sie forderte mit Nachdruck, dass staatliche Bildungsinstitutionen endlich ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag auch in Bezug auf die menschliche Verantwortung für Tiere gerecht werden müssen. Solange Tierschutz- bzw. Tierethikunterricht nur auf freiwilliger Basis stattfinde, werde angesichts zunehmender Lobbyarbeit finanzstarker tiernutzender Interessenverbände an Schulen und sogar Kindergärten eine neutrale Wissensvermittlung und freie Meinungsbildung von Kindern und Jugendlichen in keinster Weise gewährleistet. Die Pflicht, dem Lobbyismus für erlaubtes Tierleid entgegenzutreten, dürfe nicht nur auf Tierschutzorganisationen abgeschoben werden.
Streitgespräch
„Tierbefreiungs-Philosophin" Friederike Schmitz und Ethiker Peter Kunzmann
Schmitz verteidigte aus meiner Sicht sehr gescheit und erfolgreich die Ethik der Tierbefreiung gegen die „Tierschutz-Ethik" Kunzmanns. Sie begründete ihre Position damit, dass letztendlich bei allen Nutzungsformen die Bedürfnisse bewussteins- und leidensfähiger Lebewesen systematisch verletzt würden. Dies lasse sich auch nicht durch Reformen oder verschärfte Haltungsregularien aufheben. Die Gewalt gegen Tiere sei grundsätzlich nicht mithilfe von Notwendigkeitsbehauptungen zu rechtfertigen, da ihre Nutzung weder für eine gesunde Ernährung noch für sonstige Zwecke nötig sei.
Kunzmann vertrat dagegen die klassische Position des Tierschutzes, bei der das Leid des Individuums zwar verhindert oder gemildert werden soll, die Nutzung von Tieren aber grundsätzlich für nötig und deshalb für legitim gehalten wird. Er stellte teilweise unhaltbare Behauptungen auf, u. a. dass die Abschaffung der Tierversuche zwangsläufig einen völligen Stillstand des medizinischen Fortschritts bedeuten würde ‒ eine Behauptung, die postwendend von Dr. Corina Gericke (Ärzte gegen Tierversuche) und der hessischen Tierschutzbeauftragten Dr. Madeleine Martin mit zwingenden Argumenten und scharfen Worten widerlegt wurde.
„Stationengespräche"
Das neu eingeführte System der Arbeitsgruppen fand ich überwiegend positiv. Die Tagungsteilnehmer/Innen mussten sich grundsätzlich für einen der beiden großen Themenbereiche „Der vernünftige Grund" und „Das Tier im sozialen Umfeld des Menschen" mit jeweils vier Unterthemen entscheiden. Die einzelnen Gruppen beschäftigten sich dann im Rotationsverfahren an verschiedenen „Stationen" mit den Problemen und erarbeiteten Lösungsansätze zu jedem der jeweils vier Unterthemen, so dass man nicht nur auf ein einzelnes Teilthema wie früher beschränkt war, sondern wesentlich mehr mitbekam, als in den Jahren zuvor.
Mein Eindruck
Es waren wesentlich mehr Tierrechtler/innen da, die ernst genommen und nicht ‒ wie es früher leider manchmal der Fall war ‒ vom Großteil der TeilnehmerInnen übergangen oder gar zurechtgewiesen wurden. Von den 100 Teilnehmern gaben sich immerhin 11 Leute als ethisch motivierte VeganerInnen zu erkennen. Und so wurde in jeder Arbeitsgruppe neben kurzfristigeren Lösungsansätzen auch die Forderung nach der endgültigen Abschaffung von Tierversuchen, der Nutztier- und Zoohaltung usw. laut und im Plenum vorgestellt.
Die Würde des Tieres: Tierschutztagung der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 11.03. bis 13.03.2011
In Art. 1 des neuen Schweizer Tierschutzgesetzes, das 2008 in Kraft trat, heißt es:„Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen."
Der Begriff „Würde" wird darin folgendermaßen definiert: „Eigenwert des Tieres, der im Umgang mit ihm geachtet werden muss. Die Würde des Tieres wird missachtet, wenn eine Belastung des Tieres nicht durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden kann. Eine Belastung liegt vor, wenn dem Tier insbesondere
- Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden
- es in Angst versetzt oder erniedrigt wird
- wenn tief greifend in sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten eingegriffen
- oder es übermäßig instrumentalisiert wird."
Foto: Wolfgang Livaditis
Die Teilnehmer der diesjährigen Tagung sollten die Frage erörtern, ob die Aufnahme des Würdebegriffes in das deutsche Tierschutzgesetz hilfreich wäre und wie sich die „Würde des Tieres" gegebenenfalls konkreter definieren ließe. Zum Auftakt der Veranstaltung beleuchteten Vorträge das Thema aus rechtsphilosophischer, veterinärmedizinischer, religiöser und juristischer Sicht.
Wie alle Vortragenden feststellten, wird unter dem Begriff „Würde" gemeinhin eine Eigenschaft verstanden, die ausschließlich dem Menschen zukomme und theologisch aus der Annahme seiner Gottebenbildlichkeit oder philosophisch - etwa bei Kant - aus seiner Vernunftfähigkeit hergeleitet werde. Dieses „Wesensmerkmal" zeichne den Menschen vor allen Lebewesen aus und sei ein absoluter, grundsätzlich unantastbarer Wert. Die Referenten waren sich darüber einig, dass der Begriff der Würde im absoluten Sinn auf Tiere nicht anwendbar sei, da dies ihre Nutzung für menschliche Zwecke ausschließen würde. Einvernehmlichkeit herrschte aber auch, dass Tieren grundsätzlich ein „inhärenter Wert", also „Eigenwert" zukomme, der ihnen unabhängig vom Nutzen für den Menschen gegeben sei.
Prof. Klaus-Peter Rippe, Ethikprofessor an der PH Karlsruhe und Präsident der Schweizer Tierversuchskommission in Zürich, plädierte dafür, Tieren daher eine relative und damit eingeschränkte Würde zuzusprechen. Obwohl das Konzept der Würde, insbesondere der Tierwürde, schillernd und vage sei, hält er die Aufnahme des Würdebegriffes ins Tierschutzgesetz für sinnvoll, weil dieser Terminus „appellativen", also auffordernden Charakter und damit die Kraft habe, das Bewusstsein für Tierschutz in Politik und Gesellschaft zu schärfen.
In seinem eindrucksvollen Plädoyer für die Tierwürde wies Dr. Thomas Schaack, Theologe und Umweltbeauftragter der Nordelbischen Kirche, auf die Schöpfungsgemeinschaft allen Lebens hin. So seien Tiere ursprünglich nicht als Nahrung für den Menschen geschaffen worden (Genesis, 1,29). Er argumentierte im Sinne Albert Schweitzers für die Ehrfurcht vor allem Leben, dem jeweils seine von Gott gegebene eigene Würde zukomme. „Diese sich der praktischen Erfahrung aufdrängende Würde von Tieren führte daher zu einer Gestaltungsaufgabe, die anzunehmen und im Bebauen und Bewahren permanent einzuüben sei."
(Das Referat kann als pdf-Datei heruntergeladen werden unter: http://www.ev-akademie-boll.de/no_cache/publikationen/onlinedokumente/ot-suche/)
Die Juristin und Leiterin der Abteilung Tierschutz und Veterinärrecht an der Universität Wien, Dr. Regina Binder, hielt ihren Vorrednern entgegen, dass in einer pluralistischen Gesellschaft der Tierschutz universell begründet werden müsse, ohne auf weltanschaulich gefärbte Axiome (als absolut richtig erkannte Grundsätze) zurückzugreifen. Da der Würde des Tieres sowieso nur ein beschränktes Gewicht zugemessen werde, könne aus ihrer Anerkennung kein realistischer Gewinn für den Tierschutz gezogen werden. Der Schutz der Tiere vor Leiden, Schäden etc. könne durch ein Tierschutzgesetz ausreichend abgesichert werden. Aus juristischer Sicht unverzichtbar halte sie hingegen die Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel, das in Österreich nach wie vor ausstehe.
Dr. Andreas Steiger, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Nutztierhaltung und Professor an der Universität Zürich, betonte, dass die Formulierung von Leitlinien für die Praxis unabdingbar sei. Der Würdebegriff dürfe keine Leerformel bleiben und sich auf Aspekte des geltenden, auf die Vermeidung von Leiden ausgerichtete Tierschutzgesetzgebung beschränken.
Ähnlich argumentierte auch Dr. Katharina Friedli, Tierärztin am Zentrum für tiergerechte Haltung des Schweizer Bundesamtes für Veterinärwesen (BVET). Grundsätzlich sei immer eine Güterabwägung zwischen den gegeneinander stehenden Interessen von Mensch und Tier geboten. Unter den genannten Belastungskriterien müssten insbesondere folgende neu hinzu gekommene weiter konkretisiert werden:
- Erniedrigung des Tieres (z.B. Zirkus, Werbung)
- tief greifende Eingriffe in sein Erscheinungsbild und seine Fähigkeiten (z.B. Zucht, Gentechnik) sowie
- eine übermäßige Instrumentalisierung (z.B. Intensivhaltung, Tierversuche)
In der Praxis sei vor allem aber die Frage schwer zu beantworten, wie eine Gewichtung der schutzwürdigen menschlichen Interessen einerseits und der tierlichen Belastung andererseits vorgenommen werden könne. Zur Konkretisierung des gesamten würderelevanten Fragenkomplexes wurde daher im schweizerischen Bundesamt für Veterinärwesen eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
Im Anschluss an die Vorträge diskutierten die Arbeitsgruppen, die von Fachleuten begleitet wurden, die verschiedenen theoretischen Ansätze und erarbeiteten konkrete Vorschläge, wie der Würde bzw. dem Eigenwert der Tiere besser Rechnung ge-tragen werden könne.
Einige Tierschützer bzw. Tierrechtler (u.a. Animal Angels, Ärzte gegen Tierversuche und ich) sprachen sich aus ethischen und ökologischen Gründen dafür aus, den Gebrauch der Tiere für menschliche Zwecke grundsätzlich kritisch zu hinterfragen und zu diskutieren. Die Mehrheit lehnte dies ab, weil die Nutzung von Tieren legitim sei, was sich u.a. aus der kulturellen Tradition und aus schwerwiegenden menschlichen Interessen wie der Sicherung der Ernährung, der Entwicklung medizinischer Therapien, Erkenntnisgewinn, Freizeitgestaltung etc. herleiten lasse (Anm.: eine meines Erachtens problematische, weil ethisch und logisch nicht schlüssige anthropozentrische Argumentation). Gleichzeitig verpflichte dies aber den Menschen als selbstbestimmtes, moralisch handelndes Subjekt dazu, die Tiere „würdevoll" zu nutzen. Allerdings beschränke sich die aktuelle Mindestnorm des Tierschutzgesetzes allenfalls auf die Leidensvermeidung. Eine würdevolle Nutzung dürfe jedoch das Prinzip der tierlichen Bedürfnisbefriedigung (Tiergerechtheit) nicht außer Acht lassen. Beispielgebend seien etwa die Qualitätsstandards des internationalen Animal Welfare Projects, die auf vier Grundpfeilern ruhen: gute Fütterung, gute Unterbringung, gute Gesundheit sowie artgerechtes Verhalten. Dabei sei es wichtig, dass das Tier in jeder Situation (z.B. auch bei der Schlachtung) als Individuum identifizierbar sein müsse, und nicht nur als anonymes „Betriebsmittel" wahrgenommen werden dürfe.
„Bio"-Schweine
Foto: Soylent Network
Als mögliche konkrete Verbesserungen, die auch EU-weit anzustreben seien, schlugen die Arbeitsgruppen u.a. vor:
Für die ethische Vertretbarkeitsprüfung von Tierversuchen sollte ein einheitlicher, verbindlicher und bundesweit geltender Kriterienkatalog eingeführt und Leidensobergrenzen festgelegt werden. Alle Möglichkeiten der Leidensminimierung müssten zwingend ausgeschöpft und die tierexperimentell Forschenden zu Schulungen verpflichtet werden, um Schmerzen bei Versuchstieren besser zu erkennen.
Für Landwirte sollten Förderprogramme eingerichtet werden, um die Hinwendung zu einer bäuerlichen ökologischen Landwirtschaft, wie im Welternährungsbericht der UNO 2008 gefordert, voranzutreiben. Fleisch-, Milch- und sonstige Tierprodukte müssten verteuert (Anm.: und daher Subventionen für die Intensivtierhaltung gestrichen) und Schlachttiertransporte auf eine Stunde begrenzt werden. Schmerzhafte Eingriffe wie z.B. das Enthornen der Rinder, das Kupieren der Schwänze und betäubungslose Kastrieren von männlichen Ferkeln sollten verboten und Haltungssysteme, die solche Eingriffe nötig machten (z.B. in der Intensivhaltung), abgeschafft werden.
Für alle Bereiche der Tierhaltung - einschließlich der Heimtiere - wird ein Sachkundenachweis vor Beginn der Haltung und speziell für die Landwirtschaft eine Kontrolle der Haltungseinrichtungen sowie eine Fortbildungspflicht gefordert. Für alle serienmäßig hergestellten Haltungs- und Schlachtsysteme sollte eine Tierschutz-Zertifizierung erfolgen. Weiter ist das Verbandsklagerecht für Tierschutzorganisationen einzuführen, um die Belange der Tiere vor Gericht überhaupt einklagbar zu machen.
Dringlich geboten wäre eine Verbesserung der Informations- und Kommunikationsstrukturen. Tierschutz sollte als reguläres Unterrichtsfach in Kindergärten und Schu-len eingerichtet werden. Wünschenswert wäre auch die Schaffung von öffentlichen Informationsstellen für Tierschutzfragen. Durch mehr Transparenz der Fleisch-, Milch- und Eierproduktion, durch ein Labeling für Tierprodukte und die gesellschaftliche Aufwertung einer fleischarmen oder vegetarischen Lebensweise könnten die Verbraucher zu einem bewussteren und verantwortungsvolleren Konsum motiviert werden. Fehlendes Wissen und falsche Vorstellungen über (Nutz)tiere, die sich in gedankenlosem Konsum und achtlosem Umgang mit ihnen niederschlagen, könnten durch sachkundige Informationen und biologische bzw. ethologische Erkenntnisse korrigiert und durch ein positives Bild ersetzt werden.
Weiter verabschiedeten die Tagungsteilnehmer eine u.a. an Bundesministerin Ilse Aigner gerichtete Resolution, sexuelle Handlungen an Tieren unter Strafe zu stellen. Bisher sind zwar die Ausübung von Gewalt und die Tötung im Zusammenhang mit Sodomie sowie die Verbreitung tierpornographischer Schriften strafbar, nicht jedoch die sexuelle Handlung als solche.
Auf eine Resolution zur Frage der gesetzlichen Verankerung des Würdebegriffes konnte sich das Plenum jedoch nicht einigen. Trotz lebhafter Diskussionen und intensivem Meinungsaustausch blieben viele Teilnehmer unschlüssig und konnten sich weder dafür noch dagegen entscheiden.
Fazit: Die Umsetzung der von den AGs erarbeiteten Forderungen würde den Tierschutz ein erhebliches Stück voranbringen. Dennoch hätte ich mir eine intensivere Diskussion zur Tierethik erhofft, bei der nicht schon von vornherein feststand, dass menschliche Interessen, solange man nur einen „vernünftigen" Grund dafür findet, ethisch schwerer wiegen als existenzielle tierliche Interessen. Eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Thema der Tierwürde kommt aber nicht um die prinzipielle Frage herum, ob und inwieweit die Nutzung von Tieren ohne Not in heutiger Zeit überhaupt zu rechtfertigen ist, insbesondere dann, wenn sie schwere Schäden oder die Tötung der Tiere zur Folge hat. Die Degradierung von fühlenden Lebewesen zu Nahrungslieferanten und „Tiermodellen" ist per se eine Verletzung der tierlichen Würde - auch unter „tiergerechten" Haltungsbedingungen. Solange wir uns im Umgang mit Tieren nicht von unseren anthropozentrischen Denkmustern lösen, bleibt das Staatsziel Tierschutz meines Erachtens in weiten Teilen Makulatur.
Foto: Soylent-Network