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Der Mythos von sicheren Medikamenten durch Tierversuche

2017-04-21 20:54

Eine klassische Frage in der Diskussion um Tierversuche ist "Wollen Sie etwa ihrem Kind ein Medikament geben, das nicht an Tieren getestet worden ist?". Meist antwortet der Fragende selbst: "Also ich bin ja froh, dass neue Medikamente erstmal an Tieren ausprobiert werden." Diese Aussage legt nahe, dass der Mensch andere Tiere als Vorkoster verwenden sollte. Vorkoster waren im antiken Rom Sklaven, welche die Speisen der Herrschenden probieren mussten. Wenn der Sklave auch nach einiger Zeit keine Anzeichen einer Vergiftung zeigte, galt die Speise als sicher.

Da der menschliche Körper zu komplex ist, als dass ein Medikament nur eine Wirkung haben könnte, stellt sich bei der Entwicklung von neuen Wirkstoffen auch immer die Frage nach den Nebenwirkungen. Das bekannteste Beispiel ist die fruchtschädigende Eigenschaft von Thalidomid, das unter dem Namen Contergan als Beruhigungsmittel verkauft worden war. Insbesondere schwangere Frauen, die mit morgendlicher Übelkeit zu kämpfen hatten, sollten davon profitieren. In der Folge kamen mehrere tausend Kinder missgebildet zur Welt, bis aufgeklärt worden war, dass das Medikament dafür verantwortlich war.

Contergan wurde zuvor bereits an Ratten, Mäusen, Meerschweinchen, Kaninchen, Katzen und Hunden ausprobiert. Da keine schweren Nebenwirkungen erkannt wurden, war Contergan sogar als „erstes bromfreies Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen“ beworben worden. Als bekannt wurde, welche Schäden das Medikament für das sich entwickelnde Kind im Mutterleib anrichten kann, wurden erneut Tierversuche, diesmal an schwangeren Tieren, durchgeführt. Das Resultat war, dass bei keines der bekannten Versuchstiere diese Schädigung auftrat. Letztlich wurde eine Tierart gefunden. Der Weiße Neuseeländer ist eine spezielle Kaninchenart, die auf gute Fleischausbeute gezüchtet war und ebenfalls Missbildungen im Mutterleib erleidete.
Contergan ist nicht der einzige Fall mit gravierenden Nebenwirkungen beim Menschen, nachdem die Forscher auf Grundlage von Tierversuchen eine Unbedenklichkeit bescheinigt hatten. 95 Prozent der Medikamente, welche laut Tierversuchen vielversprechend sind, scheitern bei der Testung am Menschen. Die Gründe sind fast ausschließlich die mangelnde Wirkung am Patienten oder gravierende Nebenwirkungen. Auch Medikamente, welche nach der Testung an Patienten eine Marktzulassung erhalten, werden in 20-50 Prozent der Fälle wieder vom Markt genommen oder mit zusätzlichen Warnhinweisen versehen.

In diesem Artikel wollen wir einmal die Ergebnisse der Suche nach Nebenwirkungen in nichtmenschlichen Tieren unter die Lupe nehmen. Dazu betrachten wir zwei Studien:

Die erste Studie stellte die Frage, wie viele der menschlichen Giftigkeitsbefunde schon zuvor in anderen Tierarten aufgetreten waren. Dabei wurde bereits vorselektiert. Es wurden nur gravierende Nebenwirkungen untersucht, welche Einfluss auf die Medikamentenentwicklung genommen hatten. Damit seien die "Myriaden von kleineren Nebenwirkungen, welche jedes neue Medikament begleiten" im Vorfeld ausgeklammert. Untersucht wurde also nur, ob eine nachweislich beim Menschen auftretende schwere Nebenwirkung schon vorab in einer Studie an Versuchstieren beobachtet worden war.

Das Ergebnis war schockierend. 71 Prozent der schweren Nebenwirkungen waren vorab auch an einzelnen Tieren in Versuchen beobachtet worden. Das bedeutet, dass 29 Prozent der schwerwiegenden Giftigkeitsbefunde im Tierversuch nicht auftraten, sondern ausschließlich beim Menschen erkannt wurden. Fast jede dritte Schädigung, die bei der Testung am Menschen auftritt, ist den Forschern vollkommen neu. Das macht bereits deutlich, dass keinesfalls von sicheren Medikamenten gesprochen werden kann. Bei 7 Prozent der Nebenwirkungen hat man eine entsprechende Schädigung bei Nagetieren gesehen und beschlossen, sie zu vernachlässigen, weil sie bei Hunden und Affen nicht auftrat. Andersherum gab es Nebenwirkungen, welche zwar bei Hunden oder Affen auftraten, die allerdings bei Nagetieren fehlten und deshalb vernachlässigt wurden. Und weitere 36 Prozent der Nebenwirkungen traten sowohl bei Nagetieren, als auch bei Hunden oder Affen auf, aber sie wurden nicht berücksichtigt, vermutlich weil die Zahl der daran leidenden Tiere zu klein war, um die Wirkung ernstzunehmen.



Wohlgemerkt alle Medikamente sind zur Testung am Menschen zugelassen worden, obwohl bereits 71 Prozent der gravierenden Nebenwirkungen in Versuchen an Tieren beobachtet worden waren. Der Grund dafür war, dass man nicht sicher wusste, ob die Schädigungen beim Menschen auch auftreten würden oder nicht. Das macht deutlich, wie schwer es ist, ein Ergebnis auf eine andere Tierart zu übertragen.

Eine weitere Studie stellte die Frage daher grundlegender: Kann der Befund einer Tierart vorhersagen, ob eine andere Tierart geschädigt würde? Das betont gleich zwei essentielle Punkte. Erstens ist es wichtig bei der Beurteilung der Giftigkeit, eine Vorhersage treffen zu können. Es ist schlecht im Nachhinein festzustellen, dass man schon vorher Indizien hatte, die man nicht recht zu deuten wusste. Zweitens wird nicht nur die Übertragbarkeit von anderen Tierarten auf den Menschen hinterfragt, sondern auch untersucht, ob Ergebnisse der Maus besser übertragbar wären auf den Hund, das Kaninchen, den Affen oder die Ratte und auch umgekehrt, ob die Ergebnisse des Affen Rückschlüsse auf die Situation beim Kaninchen, dem Hund oder der Ratte erlauben könnten. Auch hier waren die Ergebnisse ernüchternd.

Die Gesundheit des einen Tieres hatte überhaupt keine Aussagekraft, ob die andere Tierart geschädigt würde oder nicht. Wenn eine Tierart an Nebenwirkungen litt, war das fast nie ein zuverlässiger Indikator dafür, dass auch die andere Tierart daran leiden würde. Einzig bei Maus und Ratte konnte darauf geschlossen werden, dass jeweils auch das andere Nagetier leiden würde. Zwischen Hunden, Affen, Menschen und Mäusen hingegen war ein Giftigkeitsbefund in der einen Tierart in der Regel nur ein mäßiges, aber kein zuverlässiges Indiz. Während Wissenschaftler in letzter Zeit zunehmend betonen, dass Primaten als die Nächstverwandten des Menschen als bestmögliches "Tiermodell" mehr benutzt werden sollten, kommt die Studie zu faszinierenden Ergebnissen. Die Aussagekraft zwischen Primaten und Menschen war nahezu die schwächste unter allen untersuchten Tierarten. Eine vergiftete Maus war für Affen ein stärkeres Indiz als es ein vergifteter Affe für den Menschen war.Tatsächlich war ein leidender Affe für Mäuse, Ratten und Hunde ein gefährlicheres Zeichen als für den Menschen. Dabei gilt es zu betonen, dass keine Tierart ein zuverlässiger Indikator für eine andere Tierart war. Es gab nur unzuverlässige und weniger unzuverlässige Ergebnisse. Die Authoren der Studie kommen zusammenfassend zu dem Schluss, dass keine Tierart als "Modell" für den Menschen dienen kann.

Die eingangs gestellte Frage, ob es für uns und unsere Kinder nicht sicherer sei, wenn Medikamente erstmal an Tieren getestet werden lässt sich also eindeutig beantworten. Nein!

Wenn eine andere Tierart das Medikament gut verträgt, sagt das nichts darüber aus, ob auch Menschen das Medikament gut vertragen. Wenn eine andere Tierart unter Nebenwirkungen leidet, ist das kein Beweis für die Giftigkeit am Menschen.

Quellen:
• Hartung T.: Look back in anger - what clinical studies tell us about preclinical work. ALTEX  2013; 30(3):275-91
• Lasser K. E. et al.: Timing of new black box warnings and withdrawals for prescription of medications.The Journal of the American Medical Association 2002; 287(17): 2215-2220
• Olson H. et al.: Concordance of the toxicity of pharmaceuticals in humans and in animals. Regul Toxicol Pharmacol. 2000;32:56–67
• Bailey J. et al.: Predicting Human Drug Toxicity and Safety via Animal Tests: Can Any One Species Predict Drug Toxicity in Any Other, and Do Monkeys Help? ATLA 2015; 43: 939-403


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